…hört man Marie genervt durch die Wohnung schreien.
„Jetzt hat er scho‘ wieder seine Socken in der gesamten Wohnung verstreut… das ist doch jetzt echt nicht sein Ernst, oder?!“, denkt sie sich, als ihr prüfender Blick über die Silhouette des Wohnzimmermobiliars gleitet. Kaum hat Marie sich von ihrer Schnappatmung erholt, hört sie ihren Mann Toni aus dem Schlafzimmer rufen:
„Schatz, ich habe keine sauberen Socken mehr, schaffst du es nicht, einmal die Woche die Waschmaschine anzuwerfen? Soll ich dir die Bedienungsanleitung nochmal in leicht verständlichen Bildern aufzeichnen, damit auch du sie verstehst?“
Maries Puls steigt und schlagfertig schmettert sie zurück:
„Was du mir zeichnen kannst, ist eine Schatzkarte für deine schmutzigen Socken, damit auch ich einmal erfahre, wo du sie überall verteilt hast!“
„Jetzt übertreib nicht! Den Anblick von ein paar Socken im Wohnzimmer musst du einfach aushalten, sonst nehm‘ ich das nächste Oneway-Ticket auf die Bahamas!“
Wir können ahnen, wie dieser Tag nun weiter verläuft. Aus dem geplanten, fröhlichen Fahrradausflug, der für die beiden ein erholsamer Ausgleich zum Bürojob sein sollte, wird ein genervter, schweigsamer, anstrengender Nachmittagssport. Diese fiesen Socken! Aber sind wirklich die Socken schuld an dem Desaster? Was ist hier eigentlich passiert? Und wie könnte die Szene anders ablaufen, damit der Nachmittag für die so dringend benötigte, gemeinsame Erholung genutzt werden kann?
Um die Hintergründe zu verstehen, reisen wir ein Stück in die Vergangenheit von Marie und Toni.
Marie wurde streng erzogen. Ihrem Vater war es wichtig, dass im Hause Ordnung herrscht, ansonsten wurde er leicht zornig und das machte der kleinen Marie Angst.
Toni wurde von seinen Eltern sehr behütet und beschützt. Seine Mutter kümmerte sich sorgfältig um den Haushalt, aber auch um Toni, der wenige Freiräume hatte, da stets die Sorge im Raum stand, dass ihm etwas Schlimmes passieren könnte.
Ganz ohne Absicht erinnern nun die harmlos aussehenden Socken auf der einen Seite an die strenge Erziehung in Kindheitstagen, und auf der anderen Seite stehen sie für den Verlust der Freiheit und Ungezwungenheit.
Unser Gehirn ist darauf programmiert, uns von Kindheit an stets vor Schaden zu bewahren und hält es deshalb für eine gute Idee, alle Gefahren, die uns jemals begegnet sind, ordentlich und sicher in unserem Nervensystem einzuspeichern. Nun braucht es nur einen kleinen Auslöser (Triggerpunkt), um die Angst von damals wieder spürbar werden zu lassen… und schon hat Marie das Gefühl, sie müsste sich ganz dringend gegen diese gefährlichen, herumliegenden Socken heftig wehren. Toni befürchtet (unterbewusst) seine Freiheit und Unabhängigkeit zu verlieren, wenn er Maries Wunsch entspricht und die Wäsche in der dafür vorgesehenen Box deponiert. Am liebsten würde er weglaufen. Gleichzeitig wünscht er sich aber auch, umsorgt zu werden.
Im Prinzip ist dieser Anteil im Gehirn, der für das Beschützen zuständig ist, schon auf dem richtigen Dampfer. Sehr viel früher war es dringend notwendig, rasch zu reagieren, zum Beispiel als der prähistorische Höhlenlöwe plötzlich aufgetaucht ist. In dieser Situation wäre es nicht sehr hilfreich gewesen, in Ruhe darüber nachzudenken, wie man diesen kuscheligen Gesellen davon überzeugen könnte, sich einen anderen Leckerbissen zu suchen.
Nun ist es aber so, dass wir die Nachkommen jener Menschen sind, die gelernt haben, blitzschnell zu reagieren, wie zum Beispiel mit Angriff oder Flucht. Wer zu lange überlegt hat, ist ja schließlich gefressen worden. Es ist auch sehr freundlich von unserem Gehirn, dass es immer noch versucht, uns zu schützen, allerdings gibt es einen Programmierfehler: Die bunten Socken werden mit dem Löwen verwechselt. Das führt dazu, dass Marie blitzschnell auf Angriff geht, um ihre sichere, gewohnte, ordentliche Umgebung wieder herzustellen, und es führt dazu, dass Toni am liebsten flüchten möchte. Aber es gibt auch gute Nachrichten: Die jüngeren Gehirnareale, die für Empathie und Mitgefühl zuständig sind, können aktiv trainiert werden, um das ältere Reptiliengehirn zu besänftigen.
Am besten klappt das Lernen gemeinsam, indem ein Paar übt, so viel Sicherheit wie möglich auszustrahlen. Dadurch kann sich das Nervensystem beruhigen und ein entspanntes, sicheres, verbundenes Miteinander ist möglich. Und das wünschen wir uns doch am Ende eigentlich alle, oder?
Das alles und noch viel mehr erfahren Marie und Toni bei einer Imago Paarberatung. Ihnen ist wichtig, zu verstehen, wieso sie von harmlos auf der Kommode liegenden Socken so sehr auf die Palme gebracht werden. Und sie wollen lernen, wie man Konflikte friedlich gemeinsam löst und so die zukünftigen Fahrradausflüge entspannt und erholsam werden.
Wir verlieben uns vordergründig in besonders liebevolle und attraktive Eigenschaften unseres Partners, unterbewusst fühlen wir uns aber auch von den Verhaltensweisen angezogen, die uns sehr verletzen können. Die Imago-Theorie - begründet von Harville Hendrix, PhD, und seiner Frau, Helen LaKelly Hunt, PhD - besagt, dass wir uns genau deshalb in diese eine Person verlieben, weil sie uns den Finger auf eine alte Wunde legt, welche somit aufgedeckt und geheilt werden kann. Wir wünschen uns, dass sich der/die Liebste so verhält, wie es Mama, Papa, oder eine andere Bezugsperson nicht getan hat, und möchten alle unsere Bedürfnisse gestillt bekommen. Naturgemäß fällt es dieser auserwählten Person aufgrund der eigenen Lebensgeschichte aber besonders schwer, die Wünsche des Partners zu erfüllen.
Gemeinsam als Paar können neue Verhaltensweisen erlernt und somit frühere Verletzungen geheilt und Bedürfnisse erfüllt werden. Genauso können wir lernen, ein liebevoller Partner für den anderen zu sein. Reagieren wir in einem Streit sehr emotional und der Situation nicht angemessen, hat der Partner einen Auslöser gedrückt und wir fühlen erneut den Schmerz einer früheren Verletzung. Unsere damalige Bewältigungsstrategie tritt automatisch zu Tage und wir schreien, weinen, laufen weg oder machen uns unsichtbar. Früher war das wichtig, um mit den unabänderlichen Lebensbedingungen klar zu kommen, daher sollte man wertschätzen, wie gut wir uns bisher vor Verletzungen schützen konnten. Heute können wir bewusst aus dem alten Muster aussteigen und unseren Partner an dieser Stelle um Hilfe bitten. So entsteht aus dem Gegeneinander ein verbindliches Miteinander.
Einige Monate und mehrere Paarberatungsstunden später, gibt es bei unserem Paar erneut Anlass zur Sorge, da ein herumliegendes Wäschestück den Wohnzimmerteppich ziert. Toni und Marie haben inzwischen fleißig geübt, ihre Krokodilgehirne im Zaum zu halten und ihre Empathie-Areale trainiert.
Als Marie spürt, dass sie sich gleich aufregen möchte, bittet sie Toni um ein wenig Zeit, die sie benötigt, um sich selbst zu beruhigen. Es gibt verschiedene Techniken, um das Nervensystem wieder in Ruhe zu bringen und Marie hat es inzwischen echt gut drauf. Nach einer Weile bittet sie Toni um einen Imago Dialog. Toni sagt, dass er gerne dazu bereit wäre, aber noch eine halbe Stunde etwas erledigen müsse, dann aber Zeit für sie habe.
Beide setzen sich gegenüber und schauen sich in die Augen. Handys sind aus, die Kinder sitzen vor dem Fernseher, die Tür ist zu. Wenn die Schwiegermutter genau in diesem Moment unverhofft ankommt, muss sie eben ein wenig draußen warten.
Marie gibt Toni eine Wertschätzung. Dabei beschreibt sie genau, welche Eigenschaft sie an ihm schätzt und was es in ihrer Welt bedeutet, ihn mit dieser Eigenschaft zu erleben und was sie dabei fühlt.
Toni wiederholt, was Marie gesagt hat, um zu überprüfen, ob er genau gehört hat, was sie meint.
Toni gibt Marie eine Wertschätzung auf die gleiche Weise und Marie wiederholt sie ebenfalls.
Im weiteren Verlauf stellt sich Toni ganz in Maries Schuhe, um zu verstehen, was Unordnung mit ihren Lebenserfahrungen zu tun hat und kann nachfühlen, was auf emotionaler Ebene bei ihr wirklich passiert.
Durch viel Liebe und Verständnis kann Toni von seinem Verhalten loslassen und ab und zu die Socken in die Wäschekiste werfen - weil er genau versteht, weshalb im Haus verteilte Schmutzwäsche bei Marie ein Gefühl von Kontrollverlust hervorrufen kann. Inzwischen ist Toni auch bewusst, dass er seine Freiheit nicht verliert, wenn er Marie zuliebe eine Gewohnheit verändert.
Mit Verständnis und Einfühlungsvermögen sind die beiden ein gutes Team geworden und der plötzliche Ärger, der sie manchmal befällt, wird mit jedem geklärten Konflikt etwas kleiner. Ab und zu ertappen sie sich bei kindischem Verhalten und können gleich darüber lachen. Humor macht es oft leichter – aber nur, wenn es beide lustig finden, und wenn Humor klar abgegrenzt wird von verletzendem Sarkasmus.
Wenn sich zwei Menschen dazu entscheiden, gemeinsam erwachsen zu werden, steht einer harmonischen Beziehung nichts im Wege. Es braucht vor allem die Bereitschaft, sich mit achtsamer Neugierde zu begegnen, auch wenn man glaubt, den anderen schon in- und auswendig zu kennen.
S. Peer, 30.6.25